Ein Ausflug zu richtig verwunschenen Orten dieser Stadt
Kalt, nass, grau. Keine Stadt macht bei einem solchen Wetter eine gute Figur. Und wir sind trotzdem verabredet. Denn bürgerschaftliches Engagement macht nicht vor Nieselregen und Schneesturm halt. Und genau darum geht es uns. Mitten in Altchemnitz, wo die Straßenzüge fast ausschließlich von Industriebrachen und Autohandel gesäumt werden, treffen wir auf Lisa. Lisa Hetmank ist Teil der Bordsteinlobby. Als gemeinnütziger Verein haben sie und ihre Crew es sich zur Aufgabe gemacht, die 39 Stadtteile von Chemnitz erlebbarer zu machen. Wir treffen uns am Wirkbau, denn sie hat sich für eine Runde durch Altchemnitz entschieden. Warum eigentlich?
Lisa: „Ich wohne selbst seit kurzem hier und für mich hat Altchemnitz ein krasses Flair, in welchem die wunderbare Skurilität von Chemnitz deutlich wird. Der Stadtteil ist wie ein Flickenteppich architektonischer Stile – fast ohne erkennbarer Struktur. Er wirkt so unsichtbar, obwohl er direkt hinter dem Zentrum beginnt und sich fast bis ins Fritz-Heckert-Gebiet erstreckt. Der Stadtpark grenzt direkt an – und am südlichsten Punkt wird aus der Würschnitz und der Zwönitz der Fluss Chemnitz. Man kann hier kreativ und laut sein und vielleicht ist das ein Grund, warum wir hier auch einen Teil unseres „Staunt!“-Festivals in diesem Jahr stattfinden lassen möchten.“
Das Wetter ist perfekt, um ein bisschen vom Sommer zu träumen. Lisa erzählt, dass sie insgesamt drei Stadtteile für die diesjährige Auflage des Festivals (www.staunt-festival.de) auserkoren haben. Neben Altchemnitz sind dies noch Bernsdorf und Helbersdorf. Während Bernsdorf insbesondere studentisch geprägt ist, liegt Helbersdorf im Heckert-Gebiet und ist damit Teil eines der größten noch erhaltenen Plattenbaugebiete Ostdeutschlands. An zwei Wochenenden im September soll es stattfinden und während wir gemeinsam an leer stehenden Häusern vorbei laufen, direkt auf den Spinnbau zu, wollen wir wissen, was bei „Staunt!“ so passieren soll.
Lisa: „Wir wollen gemeinsam flanieren, Ecken entdecken, die man sonst nicht wahrnimmt und mit den Menschen im Viertel aktiv werden und gemeinsam die Kultur- und Mitmachorte sichtbar machen. Wir stellen bei unseren Erkundungen immer wieder fest, wie toll es hier überall ist. Letztes Jahr zum Beispiel habe ich hier auf einer Wiese (einem Parkplatz) einfach gelernt, auf Langlauf-Skiern zu fahren. Und diesen spielerischen Umgang mit einer Stadt, den möchten wir anderen vermitteln. Den Chemnitzerinnen und Chemnitzern genauso wie Gästen.“
Altchemnitz ist wahrlich kein Stadtteil, den man sich aussucht, um durch die Gegend zu flanieren. Wir merken aber: Schade eigentlich. Bei unserer Runde kommen wir an einer Brache vorbei, die vor Jahren Festivalschauplatz der „Ibug“ war. Dieses Festival hat sich der Industriebrachenumgestaltung verschrieben und tourt in der Regel durch die sächsische Provinz. Ein Donut aus Mosaiksteinen prangt an einem Nebengelass und noch immer findet man große Streetart-Werke an der Fassade.
Lisa: „Das Schöne hier ist, dass Altchemnitz immer wie ein riesengroßer Spielplatz wirkt. Hier ist temporäre Nutzung keine Seltenheit. Man hat das Gefühl, dass man nichts kaputt machen kann, im Gegenteil. Einzig: Die Frage der Nachnutzung muss natürlich geklärt werden. Aber da kommen wir auch noch hin. Aktuell sind das Schauspiel und das Figurentheater in den Spinnbau gezogen, während die eigentliche Spielstätte saniert wird und vielleicht kann sich der Standort auch danach als Bühnen-Ort etablieren. Mit der Spinnerei und dem nahe gelegenen Club Transit gibt es bereits zwei angesagte Locations in unmittelbarer Nähe. Der Wirkbau, wo wir unsere Runde gestartet haben, entwickelt sich stetig weiter und es entsteht auch Neues. Ich bin der Überzeugung, dass sich hier viel entwickeln wird.“
Wir laufen zurück zum Wirkbau, kommen noch an einer zum Bücherschrank umfunktionierten Telefonzelle vorbei, mit einer Passantin ins Gespräch und vertiefen die Idee, Altchemnitz zum Bermudadreieck der Partys zu erklären. Macherinnen und Macher, die ihre Kompetenzen bündeln und gemeinsam etwas Großes auf die Beine stellen, gibt es in Chemnitz zum Glück einige. Deshalb sind wir jetzt auch noch auf dem Schloßberg verabredet. An der Küchwaldbühne treffen wir auf einige Mitglieder des gleichnamigen Vereins. Mit dabei: Rolf Esche, der Vorsitzende und Werner Haas, der dramaturgische Leiter der Bühne. Die 1956 bis 1963 als Amphitheater angelegte Freilichtbühne wurde vor allem als Kino genutzt, bevor sie dann nach der politischen Wende ihre Bestimmung verlor. Die Sonne kann sich fast gegen die Wolken durchsetzen und wir bekommen eine kleine Führung über das Gelände. Rolf und Werner erzählen, wie sie vor jetzt 13 Jahren gemeinsam mit anderen die Bühne aus dem Dornröschenschlaf geweckt haben.
Werner: „Bei der ersten Besichtigung hier mit dem Grünflächenamt im Dezember 2008 dämmerte es bereits. Wir sind also mit Taschenlampen auf das Gelände, welches völlig zugewachsen war. Es fühlte sich ein bisschen an, wie urbane Wildnis. Das erste Stück, welches wir bereits ein paar Monate später hier inszenierten, spielte genau damit. Als Kulisse für „Momo“ war es perfekt. Bei der Premiere flossen direkt Tränen, denn viele haben nicht mehr daran geglaubt, dass die Küchwaldbühne wieder zu erwecken sei.“
Rolf: „19 Jahre lang lag die Bühne insgesamt brach. Wir sagen hier immer, dass Bäume in der Zeit sieben Meter wachsen. Vieles musste erst einmal begehbar gemacht werden. Zudem steht das gesamte Gelände unter Denkmalschutz, das muss bei der Sanierung natürlich bedacht werden. Heute passen hier bei normaler Auslastung 800 Personen hinein. Früher waren es 5.000.“
Werner: „Jedes Jahr finden hier Künstlercamps statt, wir machen Kinder-Theater-Workshops und inszenieren immer ein Stück, welches wir insbesondere mit Kindern einstudieren. Diesen Sommer zeigen wir Erich Kästners „Konferenz der Tiere“ und ich freue mich schon jetzt auf all die tollen Kostüme. Die Premiere ist für den 10. September geplant.“
Der Weg zu den Toiletten wird gesäumt von Bildern, die unterschiedliche Ecken des Areals in einer Vorher-Nachher-Collage zeigen. Es ist dem Engagement der Akteure zu verdanken, dass hier überhaupt noch gespielt werden kann. Während der Pandemie war dies teilweise die einzige Möglichkeit für das städtische Theater, in Chemnitz Inszenierungen zu zeigen. Draußen und mit Abstand. Kunstwerke, die in den Camps entstanden, säumen den Weg auf den Rang. Es gibt mittlerweile auch einen barrierefreien Zugang. Nicht ohne Stolz erzählen die beiden, dass zur Einweihung auch die Ministerin vorbei kam.
Rolf: „Natürlich braucht ein solch großes Vorhaben immer auch ein finanzielles Fundament. Als wir anfingen, standen hier Dixi-Klos und Bierbänke. Jetzt haben wir ein Bühnenhaus und richtige Bänke. Man kann immer noch Pate oder Patin für einen Meter Bank werden und mit der Summe dann die Arbeit unseres Vereins und den Wiederaufbau unterstützen. Denn es gibt immer etwas zu tun.“
Werner: „Die Bühne ist 18×12 Meter groß und manchmal haben wir Glück, dass von anderen Produktionen etwas übrig bleibt, das wir dann weiter nutzen können. Von der Idee und dem ersten Treffen bis zum heutigen Zustand war es ein weiter Weg aber wir haben unterwegs Mitstreiter gefunden, einen Verein gegründet und freuen uns jedes Jahr aufs Neue, wenn wir Zuschauer begeistern können.“
Wir verlassen die Bühne und laufen zum imposanten Eingangsportal. Von dort hat man einen guten Blick in Richtung Stadt. Hinter uns liegt der Küchwald, welcher 94 Hektar umfasst und eigentlich gar kein richtiger Wald ist. Der Name kommt noch von der Zeit, da sich in unmittelbarer Nähe das Kloster gründete und die Früchte und Tiere des Waldes die Nahrungsgrundlage der Mönche waren. Heute nutzen ihn jährlich etwa 1,5 Millionen Menschen als Naherholungsgebiet. Wer mag, kann in den Sommermonaten mit der Parkeisenbahn einen Teil des Geländes durchfahren. Tennisplätze findet man ebenso wie ein Schullandheim, einen Hochseilgarten und das Kosmonauten-Zentrum. Und die großzügige Wiese vor der Bühne lädt geradezu zum Picknicken ein. Ebenfalls praktisch: man kann mit dem Bus oder auch mit der Bahn zum Küchwald fahren und auch Fahrradständer gibt es ausreichend.